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Herbert – 100lbs (1996 / 2006)


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Vor zehn Jahren erschienen und heute noch toll: Matthew Herberts sparsames House-Album „100 lbs“ wird dieser Tage wiederveröffentlicht

Anfangs war es unter Techno- und Houseproduzenten verpönt, ihre Momentaufnahmen anders als auf den kurzlebigen Vinyl-Maxis festzuhalten. Die Euphorie von gerader Bassdrum, Schweiß und Liebe in Albumlänge, das erschien als Widerspruch. Der Brite Matthew Herbert erkannte jedoch früh, dass eine Reihe von „günstigen Augenblicken“ oft erst im Rückblick miteinander ihren ganz speziellen Gerinnungsfaktor zwischen Genese und Geschichtswerdung ausbilden.

Unter den Pseudonymen Wishmountain und Doctor Rockit hatte er Abenteuerliches aus verspieltem Elektro und hart knallender Musique Concrete fabriziert, um schließlich als Herbert seine House-Maxis Part One bis Part Three zu veröffentlichten. 100 lbs vereint all dies zum ersten Langspielwerk, mit ihm zog er im Jahr 1996 ein Resümee seiner bisherigen Laufbahn im Klangbastelstudio und auf der DJ-Kanzel.

Zehn Jahre sind seitdem in rasenden elektronischen Schritten vergangen, jetzt bringt das Label !K7 Herberts Höhepunkte quasi zum dritten Mal und gleich als Doppel-CD heraus: 100 lbs und eine Bonus-Silberscheibe mit Aufnahmen von 1995 bis 2000. Im Unterschied zum saftigen, schwülen Discosoul aus der Wiege der klassischen House Music in New York und San Francisco schuf er den wohl trockensten Minimalismus, den diese Musik des Überschwangs vertragen kann. Sein Klangspektrum speist sich aus kühlen akustischen und hellen elektronischen Quellen, entsprungen in einem anderen Universum als die charakteristischen schrill nach oben geschraubten Vokalchöre und das sonst übliche HiHat-Gezischel.

Kalte Schüsse wie aus ungeladenen Feuerwaffen klicken ins Leere, verpuffen als klapperndes Elektro-Stakkato in der stehenden Luft zwischen den Beats. Dennoch sind Herberts Vierviertel nicht weniger warm und treibend, der funky Bass knötert und gniedelt in Thinking Of You, orgelt sich ganz nah ans Herz. Anderswo knistern Keyboard-Cluster im Rückwärtslauf, Sirenen vom Synthesizer zirpen von fern über die Stimmen freundlicher, fast zärtlicher Animateure aus dem Computer: Let‘s disco! Das wirkt nur noch erhitzender im kühlen Ambiente der sparsamen Effekte, gerade so, als schwebten die Leuchtblasen einer Lavalampe befreit durch einen metallgrauen Winterhimmel.

Wie eine hochsensible Skala misst das Stück Friday They Dance durch den Raureif seiner zehnjährigen Geschichte den Freitagabendpuls auf und neben dem heutigen Dance Floor. Die Stile elektronischer Tanzmusik haben seitdem häufig gewechselt, Herberts 100 lbs war und bleibt ein Gegenpol der entspannten Reflexion zu den markanteren, wuchtigeren Sounds von Drum&Bass und BigBeat.

Auch wenn die B-Seiten und Raritäten auf der Bonus-CD manchmal dezent den Acid-Turbo quietschender Rhythmusmaschinen anschmeißen und die Partystimmung höher kochen lassen, Ursprung und Idee eines Klangs sind Matthew Herbert nach wie vor am wichtigsten. In seinem diesjährigen Werk Scale hüpfen Pop und Politik als bunt getarnte Flummis, die ihre geräuschhafte Herkunft nicht preisgeben, auf die Tanzfläche. Doch hier winkt jetzt erstmal mit der vieldeutigen Floskel See You On Monday das letzte der Jubiläumsstücke lässig zum Abschied.“ (http://blog.zeit.de/tontraeger/2006/11/29/minimal-im-uberschwang_244)

http://www.herbert-100lbs.com/ – Webseite zur Platte

Herbert – Around The House (1998, 2002)

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„Für viele schien Matthew Herbert 2001 mit seinem Album „Bodily Functions“ und der dazugehörigen Single „Leave Me Now“ (inkl. einem Remix vom Detroiter Housemeister Recloose, von dem wir demnächst noch einiges hören werden) scheinbar aus dem nichts aufgetaucht zu sein. Tatsächlich ist er unter einer Vielzahl von Pseudonymen wie Dr. Rockit, Radioboy, Wishmountain oder eben Herbert bereits seit 1995 in Sachen Houseinnovation unterwegs und hat seine Visionen für den perfekten Housesound Ende 2000 in seinem Manifest „Personal Contract For The Composition Of Music“ (PCCOM) definiert.

Aufgrund dieses Regelwerks verzichtet er unter anderem auf Drumcomputer und bereits existierende Sounds, wie sie etwa bei Keyboards vorgegeben sind, betrachtet jedliche Fehler, die sich bei der Produktion einstellen, als Inspirationsquelle und beschränkt die verwendeten Samples fast ausschließlich auf Alltagsgeräusche. Letzteres hat er 1996 eindrucksvoll vorexeziert, als er im Zuge einer Clubtour als Dr. Rockit mit einer ganzen Küche auftrat und die dazugehörigen Geräusche wie Türenzuschlagen, scheppernde Teller bis hin zu raschelnden Mülltüten als Soundelemente einsetzte.

Bevor Herbert dazu überging, für „Bodily Functions“ seinen Housesound unter anderem mit Körpergeräuschen (damit sind natürlich das Klopfen auf den Bauch, Herztöne etc. gemeint und nicht das, was man im ersten Moment vielleicht annehmen könnte) äußerst organisch zu gestalten, beschränkte er sich 1998 auf seinem Album „Around The House“, das K7! dankenswerterweise nun wiederveröffentlicht, entsprechend dem Albumtitel noch auf Geräuschquellen, die er in den eigenen vier Wänden aufspürte und machte so gesehen in zweifacher Hinsicht Housemusik.“ (http://www.musicchannel.cc/index.php?page=http://www.musicchannel.cc/music_stories/1/645644)

Herbert – Scale (2006)


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„Matthew Herbert ist ein musikalisches Wunderkind – in ihm wohnen so viele kreative Kobolde, daß er in hundert verschiedenen Erscheinungsformen auftritt. Er veröffentlichte Platten als Doctor Rockit, Wishmountain, Radio Boy, Transformer, und das sind nur einige seiner ungezählten Pseudonyme.
Er produzierte Roisin Murphys Soloalbum Ruby Blue, außerdem remixte er REM, Björk, John Cale und Serge Gainsbourg. Für sein letztjähriges Album Plat du Jour sammelte er Geräusche aus dem Themenbereich „Essen“: wie hört es sich an, wenn 300 Menschen gleichzeitig in einen Apfel beißen und wie klingt ein Brathähnchen? Klingt es überhaupt irgendwie? Er sampelte das Rascheln von Corn Flakes und brachte Alufolie zum Tanzen, aber im Vordergrund stand weniger die verspielte Anhäufung von Klängen, sondern die Bewußtmachung der Herkunft von Nahrung. Deshalb werden auch unbequeme Aspekte wie Massentierhaltung thematisiert – diese skurrile und gleichzeitig hochpolitische Platte gehörte zu den interessantesten Veröffentlichungen des Jahres 2005 und lohnt die Entdeckung noch immer. Für das neue Album Scale nennt sich Matthew nur noch Herbert – die Reduktion beziehungsweise Konzentration auf den einen, eigenen Namen ist nur folgerichtig. Auf Scale spielt Herberts Songwriting wieder die bedeutendste Rolle, herausgekommen sind 11 Pop-Kleinode, die im besten Sinne zeitlos sind. Der Sound ist leicht und dennoch opulent ausgestattet – ein Kammerorchester erklingt, Holzbläser, Waldhörner und Big-Band-Musiker werden mit viel Liebe zum Detail eingesetzt. House und Jazz, Disco und Musicalmelodien gehen Hand in Hand, an den Vocals wird Herbert von Dani Siciliano, Neil Thomas und Dave Okumu unterstützt.
Scale ist Party und Soundtrack zugleich. Song Nummer drei, Moving Like A Train verbindet Herberts Liebe zu Prince und Fünfzigerjahre-Orchestrierung, Down und Movie Star sind absolut loungekompatibel. Doch der Opener Something Isn´t Right verweist darauf, daß man nicht alles, was man hier zu hören bekommt, auf die allzu leichte Schulter nehmen sollte …
Trotz der Burt-Bacharach- oder Gershwin-haften Leichtigkeit und der Ohrwurmqualitäten aller Songs ist Scale ein typisches Herbert-Produkt und deshalb versteht es sich beinahe von selbst, daß für die Aufnahmen ungewöhnliche Gegenstände und Sounds verwendet wurden (Särge, Benzinpumpen, ein Tornadobomber der Royal Airforce), die in Zwölfer-Gruppen aufgeteilt wurden – als Anspielung auf das westliche Skalensystem mit jeweils 12 Tönen. Die Skala, scale impliziert weitere Bedeutungen: den Maßstab, ein Medium zum Abmessen von Abständen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den Kontrast zwischen persönlicher Befindlichkeit und dem Zustand der Welt und viele Deutungen mehr. Herbert wollte ein leichtes, poppiges Album machen, vordergründig ist ihm das gelungen – doch unterschwellig ist sie ebenso kritisch, nachdenklich und politisch geworden wie alles, was (Matthew) Herbert veröffentlicht.“ (http://www.satt.org/musik/06_07_herbert-mills.html)

http://www.herbert-scale.com/ – Webseite zum Album

http://www.matthewherbert.com/ – Herberts offizielle Webseite