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Henryk Mikolaj Górecki – Symphonie Nr. 3 (1994)

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„Mein Liebster

…Während ich das schreibe, schaue ich durchs Fenster auf die alten Häuser hier und den niedrigen Kirchturm. Es ist eine so friedliche Welt, über der jetzt gerade die Sonne untergeht, eine so harmlose Welt. Gleich schlägt die Uhr sechs, dann wird der Lärm abnehmen. Schließlich werde ich mich fühlen wie vor zweihundert Jahren und mir einbilden, irgendwo in der Ferne Peitschenknallen zu hören und die rasselnden Räder der Postkutsche…
Diese Musik ist auf andere Weise friedevoll. Als ich sie zum ersten Mal hörte (Dein erstes Geschenk an mich, erinnerst Du dich?), habe ich auch zum ersten Mal ein wenig verstanden, was geschieht, wenn sich Leidenschaft und Ruhe so unglaublich eng miteinander verbinden: auch darin, Lieber, bist Du.
Es ist, habe ich inzwischen gemerkt (und am eigenen Leibe gespürt…), noch mehr: es ist ein Ausdruck unendlicher Sehnsucht, der sich, irgendwie, in einen kaum auszuhaltenden Schmerz auflöst, oder ein Schmerz, der sich in Sehnsucht auflöst: ich weiß, daß ich manchmal gerne weinen würde, ob vor Schmerz oder aus Sehnsucht, weiß ich nicht, und es doch nicht tue, weil ich Angst davor habe, daß dann alle Dämme brechen würden… Ach.

Der erste Satz dauert fast eine halbe Stunde. Er besteht eigentlich nur aus einem gewaltigen, brodelnden Kanon über einem ruhig und gelassen daherschreitenden Grundmotiv. Cantus firmus, heißt das wohl: eine ganz selbstgewisser Gesang, wie das langsame Schlagen Deines Herzens, wenn Du neben mir liegst und ich meine kleine Hand auf Deine Brust lege. Es beginnt irgendwo in einem unbestimmbaren Dunkel, bis, ganz behutsam, die Streicher einigermaßen hörbar mit dem Kanon einsetzen, der dann gemächlich durch das Orchester wandert, immer mehr und mehr Stimmen infiziert, dabei fort und fort ein wenig höher steigt, zu einer Art von ruhiger (aber nicht kalter) Ekstase, in die dann, vollkommen unerwartet (und auch nicht vorhersehbar, nicht wirklich) eine leidenschaftliche Frauenstimme einbricht, die irgendetwas auf polnisch singt. Wie gut, denke ich, daß es polnisch ist. Ich muß das nicht verstehen. Ich will das nicht verstehen. Das ist die Stelle, Liebster, wo ich mich irgendwie wegtragen lasse wie in den Augenblicken, in denen Du–
Sie singt und singt. Das könnte, das sollte gar nicht mehr aufhören. Aber es hört natürlich doch auf, und dann setzt der große Kanon wieder ein, der, während die Sängerin sang (schlechtes Deutsch, ich weiß, mein Liebster, aber genau das tut sie, sie singt wie um ihr Leben), für einen kleinen Augenblick innegehalten hatte, als hielte die ganze Welt den Atem an für einen Moment, dann setzt dieser große Kanon wieder ein und wandert wieder durch die Stimmen des Orchesters und wird leiser und leiser, bis am Ende nur noch der cantus firmus durch die Dunkelheit schreitet.
Es könnte eine Viertelstunde gedauert haben oder eine halbe oder zwei Stunden [27:09 steht auf der CD und: Lento – Sostenuto tranquillo ma cantabile; Lento ist ein ruhiges Gleiten mehr als ein Schreiten (das würde man wohl Andante nennen, oder so), aber das schönste daran ist, daß da steht „cantabile“…], es könnte immer und immer dauern, aber es wirkt nur so ungeheuerlich durch den Gegensatz und das Ineinander von unendlicher Ruhe und der überfließenden Leidenschaft des Soprans. Während ich das schreibe, höre ich gerade den ersten Satz, wir sind in der neunten Minute, und da scheint es mir, als wäre der Kanon nicht nur ruhig, sondern auch drängend, und als müsse gleich die Sopranistin einsetzen, damit diese drängende, wunderschöne Sehnsucht nicht alles, alles sprengt und dann zerstäubt wie die Gischt, die wir damals in Land’s End bewundert haben.

Ich habe gerade eine ganze Weile dagesessen und in mich hineingehört, während Zofia Kilamowicz sang, mit einem unglaublichen Aufschwung: moja nadzieja mila… bevor das ganze Orchester wieder einsetzt…
Das Zimmer ist dunkel, längst, und die Welt draußen ist still. Ich fühle mich fast, als hätte ich gerade geweint, und es wundert mich fast, daß meine Wangen ganz trocken sind. Ich habe im Booklet nachgeschaut, was dieser unglaubliche Satz bedeutet: Bo juz jidziesz ode mnie moja nadzieja mila. Und doch, meine geliebte Hoffnung, verläßt Du mich gerade jetzt…“ (http://musik.ciao.de/Henryk_Gorecki_3_Symphonie__Test_2258463)

Wikipediaeintrag zu Gorecki und der Symphonie

Nach der emotionalen Rezension noch der dritte Satz „Lento, Cantabile samplice“ als Video bei Youtube