Schlagwort-Archive: Experimental

Grimes – Visions (2012)

Reinhören

Das Cover schreckt potentielle Hörer schonmal ab. Oder erzeugt es doch eher Aufmerksamkeit? Meine erste Assoziation war: ein Japan-Reimport 🙂 Crimes schafft es, mit ihrem dritten Album Grenzen aufzuheben und Gegensätze zu verschmelzen. Ein Gengreclash, den die Leute bei plattentest.de als „Electro-Album für Urban-Outfitters-Mädchen“ bezeichnen. Zentral ist ein schwebender Elektro-Pop, der von fast schon elfenhaften Gesängen Cocteau Twins & Co.  ummantelt wird. Passt auch irgendwie zum Plattenlabel 4AD. Damit wird es gleichsam unspektakulär oder auch scheinbar beliebig. Aber man sollte Grimes die Aufmerksamkeit widmen, die sie verdient. Dann offenbart sich das feine Geflecht der Sounds, die dieses Album auszeichnen. Für diejenigen, die keine Zeit und Ruhe dafür finden,  bleibt noch das cover als Tatoo-Vorlage 🙂

Offizielle Webseite von Grimes


AG Geige – Trickbeat (1989)

„Wir lebten in Tagen von Zeychen und Wundern. Wo sind sie hin? Keiner sah sie gehn…“, sang einst die AG Geige auf dem Album Trickbeat, ihrem poetlektischen Erstling auf Vinyl nach einigen Kassetten-Produktionen , der den Unpop in den 80ern weiter  auslotete. Vergleiche zu anderen Bands der Zeit zu ziehen, ist wohl nicht möglich. Gern wird „Der Plan“ herangezogen, wobei der Vergleich hinkt. Aber auch zu den Einstürzenden Neubauten oder DAF könnten gewisse Bezüge hergestellt werden, ohne damit ins Schwarze zu treffen.

Der „Trickbeat“ der AG Geige ist nicht zu fassen.  Er wurde nicht wirklich erfolgreich, galt aber als bester und orginellster Musikentwurf der Zeit aus der ehem. DDR. Die Mischung elektronischer Beats mit den Texten, die wohl zwischen Dada, Dekonstruktion und Hermeneutik pendeln, erzeugt eine fast schon unwiderstehliche Spannung, die auch nach 25 Jahren (!) keine Langeweile aufkommen lässt. Passenderweise heißt es im titelgebenden Track:

„Alle Tore sind geöffnet
Hunderttausend steh’n bereit
Und das Gestern wird vergessen
Und der Morgen ist noch weit
Heute ist uns nichts zu schade
Heute gibt es keine Gnade
Trickbeat heißt der Lebenssinn
Trickbeat tanzen heißt ‚Ich bin‘

Alles soll nach Trickbeat klingen
Wenn du Angst hast: Trickbeat singen

Webseite der AG Geige

Wikipediabeitrag mit weiteren Informationen

Tapeattack listet das Album zum kostenlosen Download. Ich hoffe, das ist legal. Falls nicht, bitte ich um eine kurze Info.

World’s End Girlfriend – Seven Idiots (2010)

Reinhören

Was wäre, wenn Mouse On Mars mit Godspeed You! Black Emporer zusammen ins Studio kommen? Das klänge sicher spannend, oder? Oder wie  Ulf Imwiehe von der Intro meinte: „Horror Vacui? Oder die reine Freude am Sound-Clash und sensorischen Overload? Was immer den japanischen Komponisten Katsuhiko Maeda antreibt, das Resultat klingt wie eine Jam-Session von Aphex Twin, Sun Ra und John Zorn auf Glücksbärchisaft.“

Um dieses Album zu komponieren, stellte Maeda den Gesang an erste Stelle, der zugleich das Grundgerüst darstellte, um den dann die Sounds arragiert worden sind. Das Interessante an dem Vorgehen: Im Laufe der Arbeit wurde der Gesang nach und nach aus den einzelnen Stücken gestrichen bis (fast) nur noch das Instrumentale übrig blieb. Und auch selbiges wurde geschnitten, neu zusammengesetzt, durch den Computer gejagt usw. usf…

Herausgekommen ist ein Album, was wohl schwer in Kategorien zu fassen ist. Tanzen ist kaum möglich, entspannen ebenso wenig. Es ist definitiv zum Zuhören. Verstörend und schön, wie Strukturen aufgebaut werden und im nächsten Moment wieder zerfallen, nur um etwas Neues zu gebären. Ein Verschmelzen von Extase und Besinnung, Harmonie und Dissonanz, Konstruktion und Destruktion. Sozusagen ein Durchlauf aller vier Jahreszeiten – und die mehrmals pro Titel. Das nachfolgende Video zeigt besser, wovon ich nicht schreiben kann…

Max Goldt – Die Majestätische Unruhe Des Anorganischen (1984, 1990)


Reinhören
„1984 erschien eine Langspielplatte namens MAX GOLDT  DIE MAJESTÄTISCHE RUHE DES ANORGANISCHEN. 1990 wiederholte sich dieses Schauspiel“ So erklärt sich das Album selbst bereits auf dem Cover.

Eine Sammlung geheimnisvoller Sound- und Textcollagen aus dem Goldtschen Universum. Tief- oder abgründig, trivial, grotesk, melancholisch oder untersam. Je nach eigener Stimmungslage kann man sich aus den Erfahrungen, Ein-, Aus- und Weltsichten, Weisheiten die entsprechenden Fragmente heraussuchen und durch den Tag tragen. Das klappt so gut, dass ich mich seit 20 Jahren zu Alltagssituationen immer wieder dabei ertappe, ein kurzes Zitat vom Album beizutagen. Irgendwie haben sich diese Skizzen wie  nach und nach in die Hirnrinde eingebrannt. Der Monolog der alten Diva, die von längst vergangenen Zeiten mit ihrem Mann Franz, „dem Mechtersheimer, Hilde Holm und dem Faustmann“ träumt. Der mahnende Eimer Erbsen mittelfein, oder der Minister Streifchen, über dessen Handeln sich die Kinder der Straße amüsieren. Die Betrachtungen eines Maurers aus gut bürgerlichem Haus, der sich in existenziell philosophischen Gedanken verirrt und sich damit das Leben selbst sehr schwer macht. Das kranke Kind und die Nachbarin, die sich in ihren Symbolen verliert („Mein Mann ist ja nur ein Symbol für die Stahlkrise im Saarland“). Den Mythos der Müdigkeit oder der Fahrt in die Heimat „denn dort wo unsere Wiege steht, dort wollen wir auch begraben sein.“

Auch nach 30 Jahren eine akustische Bereicherung…

Wikipedia über Max Goldt

Seefeel – Succor (1995/2010)

Reinhören
Da hab ich mal wieder was im CD-Regel ausgegraben. Hassliebe würde ich es nicht nennen, zu hart. Aber, wenn ich die CD mal wieder „ziehe“, weiß ich nicht, ob ich mich darüber ärgern werde, wenn ich sie gleich auflege und warum ich sie überhaupt noch besitze. Und dann läuft sie …und läuft. Succor ist wie ein Traum. Kein Böser. Und auch kein Guter. Aber einer, der immer wieder mal kommt. Und geht. Vergessen wird, bis er wieder da ist. Seefeel arbeiten mit Strukturen, Soundfetzen, winzigen Melodien, die sich nie zu einem „Großem und Gesamten“ verdichten wollen oder können, aber sich auch nie richtig voneinander lösen. Es wirkt fragmentiert und dicht. Sascha Köch (Spex) schrieb einst passend zu Seefeel „Seefeel waren ja schon immer groß darin, auf einem Gitarrenriff, nennen wir die Dinge mal beim Namen, herumzureiten, bis es sich auflöst und der Wahrnehmung nur noch seine immer wieder Andersartigkeit überlässt.“ Und weiter heißt es: Wer zu dieser Schallplatte geboren wird, muß sich spontan denken, die Welt sei schon in Ordnung. Bißchen rauh vielleicht, aber O.K. (…) Genaugenommen ist das die beste Seefeel-Veröffentlichung, auch wenn man sich damit etwas schwerer tut. Es ist die intensivste. Eine Spieluhr, die Jahrtausende später durch die veränderte Dichte der Atmosphäre wieder zu ticken beginnt, um einen daran zu erinnern, wie behaglich die Tage waren, als man Herzklappenfehler noch für schick halten konnte… “

Recht hat er, der Herr Köch. Und so träume ich die Musik oder sie mich, hole sie anschließend aus dem Player raus und vergesse schon, wie der Traum war, kurz nach dem Erwachen.

Seefeel bei Wikipedia

Das Album bei Warp-Records

 

Muslimgauze – Beirut Transister (2011)

Zu den CDs von Muslimgauze möchte ich schon fast nichts mehr schreiben. Viele von ihnen klingen ähnlich und doch übt jede ihre eigene Faszination auf mich aus. Vergleichbar mit den Menschen selbst – irgendwie alle äußerlich gleich und doch jeder mit seiner eigenen Biographie, oder als passenderen Vergleich zu den Alben von Muslimgauze, mit eigenem Charakter. So auch bei der Beirut Transister. Wieder mal trommelt Muslimgauze, schiebt die Sounds dann durch diveres elektronische Sequenzer, legt einen schweren, langen und nicht stampfenden Bass darunter und bereichert die Sounds mit Gesangs- und Gesprächsfetzen sowie typischen Instrumentensamples aus dem arabischen Raum. Der Charakter des Albums liegt in seinem deutlicheren Fokus auf die traditionelle arabische Musik. Nicht zu viel Elektronik oder Industrial, dafür mehr Platz für tranquilierende orientalische Flöten und Trommeln. Atmosphärisch sehr dicht und dennoch unaufdringlich. Sehr organisch. Beirut Transistor wurde als Digipack in einer 700er Limitation aufgelegt und kommt, im Gegensatz zu vielen anderen Booklets bei Muslimgauze, relativ unspektakulär daher. Immerhin das 212te (!) Album von Muslimgauze laut Webseite (http://www.muslimgauze.org/disc.html)

Jaga Jazzist ‎– A Livingroom Hush (2002)


Reinhören
Norwegen überrascht musikalisch gern hin und wieder mit einigen gengreübergreifenden Exkursionen kreativer Köpfe. Sidsel Endrese, eine der mir wenigen bekannten Sängerinen, die ihre Stimme direkt beim Gesang scratcht. Oder Bugge Wesseltoft, der nicht unwesentlich dazu beitrug, dem Jazz ein modernes Gewand anzuziehen und und mit dem House zu versöhnen. Nur zwei Größen… Jaga Jazzist reihen sich nun in die Galerie ein. Eine vielköpfige (+/-10 Personen?) Band, die seit Mitter der neunziger Jahre Musik macht (damals noch mit z.T. schulpflichtigen Gruppenmitgliedern), veröffentlichte 2002 mit A Livingroom Hush ein Album, dass sowohl in  der Jazz-Szene Beachtung fand also auch in den Clubs gespielt werden konnte. Mit voller kraft wird in alle möglichen Blasinstrumente gepumpt, Gitarre und Bass reihen sich ein, um dem Rhythmus voranzutreiben und auch so manches elektronische Instrument konnte im Studio einen Ton abgeben. Abwechslungsreich ist nicht nur die Fusion der Instrumentierung, sondern auch das Tempo der Stücke. Schön, wie sich ruhige Läufe Lied für Lied aufschichten, loszappeln um dann wieder in einer behaglicheren – nicht müden – Ton-  und Taktlage zu verweilen. Und umso erfreulicher, dass die Leute vom Label Ninja Tune auf die Band aufmerksam wurden und ihr einen passenden Platz in ihren Reihen anbieten konnten. Das verrückte Video (nachfolgend) zum Titel „A Livingroom Hush“ gibt nur einen kleinen musikalischen Eindruck in das Album. Das die Band aber auch live funktioniert und es sicherlich Spaß machen dürfte, denen mal zuzuschauen, zeigt das zweite Live-Video „Oslo Skyline“

Aphex Twin – Come To Daddy (1997)


Reinhören

Come to Daddy entstand, als ich bloß zu Hause rumgammelte, angepisst war und diesen beschissenen Death Metal-Jingle produzierte. Dann wurde es vermarktet, und ein Video wurde gemacht. Und diese kleine Idee, die ich hatte, dieser Witz, wurde zu was richtig Großem. Das war ganz und gar nicht richtig.“ (Aphex Twin) Ob es richtig war oder nicht, sei dahin gestellt. Jedoch wurde dieses „Artefakt“, was Aphex Twin so nebenher bastelte, doch zu etwas Größerem. Düstere und böse elektronische Sounds, verquere Gitarren und zwischendrin immer wieder diese typischen, zerbrechlichen Melodien. Dazu das Musikvideo von Chris Cunningham, welches Kultstatus erreichte und 2003 auf Platz 35 der Liste der „100 Scary Moments“ des Channel 4 (als einziges Musikvideo) sowie von Pitchfork Media als bestes Musikvideo der 90er Jahre gewählt wurde, dass zur Verbreitung der Musik nicht wenig beitrug. Also, insgesamt sehens- und natürlich hörenswert.

Wikipediabeitrag über Aphex Twin

Andreas Ammer & F.M. Einheit – Crashing Aeroplanes (2001/2002)

Reinhören

Andreas Ammer findet für seine Hörspiele Themen, die Abseits des Mainstreams liegen. Sei es die Vertonung der Insektenwelten (Bugs & Beats & Beasts), eine Hommage an Walter Benjamin (Loopspool) oder das Projekt „On ‚The Tracks„, bei welchem Personen in verschiedenen Städten der Welt andere Menschen verfolgen und dabei beschreiben, was sie beobachten. Die Liebe zu Details bringt eine sehr persönliche Ebene in die Hörspiele hinein, die das Hörerlebnis noch lebendiger und intimer werden lassen und durch die Wahl geeigneter Musiker (z.B. Console) werden die Grenzen vom Hörspiel zur Konzeptmusik fluid. „Crashing Aeroplanes“ tanzt da nicht aus der Reihe, wenngleich das Thema eine gewissen Brisanz besitzt. Die Texte für das Hörspiel stammen von den Cockpit Voice Recordern, die „anders, als die Piloten, jeden Absturz überstehen.“ (Zitat aus dem Hörpsiel) Ammer widmete sich diesen letzten Minuten von verschiedenen Cockpit Voice Recordern und erstelle eine Collage, die auf ihre Art sachlich und fast schon nüchtern die letzten Sekunden im Cockpit von Flugzeugen dokumentiert, wenn die Technik versagt hat. Musikalisch begleitet dieses Vorhaben F.M. Einheit (Ex-Einstürzende Neubauten), der dezent elektronische Sounds unter die Textfragmente mischt und mit üblichen, aus dem Fliegen bekannten Geräuschen (z.B. das „Bling“, wenn die Anschnallzeichen erstrahlen) anreichert. Brisant war auch, dass die CD im September 2001 veröffentlicht werden sollte, aber aufgrund des damaligen tragischen Zwischenfalls verschoben wurde.  Zu Recht wurde das Werk mit der höchsten deutschen Auszeichnung für Hörspiele, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2002 geehrt. Ammer und Einheit schaffen es, das Thema Technikversagen am Beispiel von Flugzeugabstürzen, welches durchaus Potential für eine morbide oder sensationsträchtige Herangehensweise bietet, neutral aufzuarbeiten und machen deutlich, dass Sicherheit in der technisierten Welt fragil ist und nie abschließend gegeben ist. Mir stellt sich beim Anhören die Frage, ob Piloten in diesem wohl schlimmsten Fall tatsächlich so entspannt bleiben, wie es auf der CD zu hören ist, oder hier eine geschickte Auswahl an O-Ton Dokumenten den sachlichen Blick auf das Thema nicht versperren soll.

Biografische Informationen zu Andreas Ammer bei laut.de

Funkstörung – Additional Productions (1999)

Bei Amazon
Leute Leute, wo ist die Zeit? Und eine noch größere Frage: Wie weit kann man der Zeit voraus sein? Funkstörung schafften es ja stets, Sounds zu sezieren, sie neu zusammenzusetzen und dabei ganz eigene Kreationen zu basteln. Und obwohl dieses Album schon 13 Jahre auf der Hülle, sind die Ideen immer noch frisch, was wohl an der Detailverliebtheit von Funkstörung liegt!  Bei den eigenen Werken von Funkstörung lässt sich eine Nähe zu Autechre nicht leugnen, was wohl auch für Unmut bei den Sheffieldern sorgte.

Ihre musikalische Eigenständigkeit zeigen sie bei den Auftragsarbeiten für andere Musiker, von denen sich auf diesem Album einige wiederfinden. Versammelt sind sozusagen die „Reste“ und Seitenprojekte, denen sich Funkstörung in ihrer Schaffenszeit hingegaben. Acht Tracks, als Remix-Compilation zusammengestellt, zeigen zwar nicht gänzlich auf, was Funkstörung aka Michael Fakesch und Chris de Luca wirklich konnten (liegt es daran, dass das vorgegebene Material seine eigenen Strukturen mitbringt?), aber sie zeigen, wie anders eine Welt gesehen – pardon – gehört werden kann, indem sie „eine Schneiser der Verwüstung bei den Originalen“ (Intro)  hinterlassen und „verfremdete Vocals, verwaschene Beats und auch mal ein totaler Stop mitten im Flow (die komplexen Überarbeitungen schrecken vor nichts zurück. Bis zu 400 Sounds und Effekte verwenden die beiden angeblich pro Werk…“ (http://www.intro.de/platten/kritiken/23024685/funkstoerung-additional-productions)

Auf dem Album finden sich Remixe von Björk, Wu-Tang Clan, Finitribe, Visit Venus…

Verfremdete Vocals, verwaschene Beats und auch mal ein totaler Stop mitten im Flow ( die komplexen Überarbeitungen schrecken vor nichts zurück. Bis zu 400 Sounds und Effekte verwenden die beiden angeblich pro Werk, etwa auch bei den Releases für ihr Label \“Musik Aus Strom\“. Dabei aber kratzen Funkstörung immer auch am Abgrund zur eierschaukelnden Kompliziertfrickelei entlang, wenn man denn erst mal ihre komplizierten Beats begriffen hat. Aber die Ingredienzen der Originale machen dann doch jedes Werk zu etwas eigenem. Kommt mit wirklich pfiffigem \“Designers Republic\“-Cover und macht gespannt auf ihre anstehende eigene Elpee.

Wikipediabeitrag (engl.) zum Album

Wikipedia zu Funkstörung

Rezension im Kulturspiegel von 1999